Warum ich hinschaue
Es gibt Themen, die machen es einem nicht leicht. Sie berühren, sie stören, sie lösen Beklemmung aus. Für mich ist das Thema der Randständigen – oder wie ich sie nenne: Schwellenmenschen, genau so eines.
Ich habe lange gezögert, mich damit zu beschäftigen. Lieber habe ich weggesehen und bin ausgewichen, weil ich mich überfordert gefühlt habe. Doch es begegnet mir immer wieder: in der S-Bahn, auf der Straße und in meinem Inneren.
Und ich habe beschlossen, nicht mehr auszuweichen.
Der Begriff Schwellenmensch ist kein gesellschaftliches Etikett, sondern ein poetisches Bild. Er beschreibt Menschen, die an Übergängen leben, zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, zwischen Gesellschaft und Rand, zwischen dem, was wir sehen und dem, was wir lieber nicht sehen.
Ich verwende den Begriff nicht, um zu kategorisieren, sondern um zu würdigen, denn was dort lebt, ist nicht nur Not. Es ist auch Mut, Tiefe und Menschlichkeit.
Begegnung in der S-Bahn
Er tritt ein.
Nicht laut, nicht freundlich.
Sein Geruch ist stark, seine Kleidung schmutzig, sein Blick fordernd.
„Hat jemand etwas übrig?“
Die Menschen weichen aus.
Einige schauen weg.
Andere greifen in die Tasche.
Ich spüre Beklemmung.
Nicht nur wegen ihm – sondern wegen mir.
Dann kommt ein anderer.
Leise, kaum hörbar.
Er murmelt etwas, hält seinen Becher hin, geht weiter.
Und wieder ein anderer:
Er sitzt einfach nur da.
Vollkommen still.
Vollkommen sichtbar – wenn man hinsieht.
Ich sehe sie, die sich mir zeigen:
Die Lauten, die Stillen, die Gebrochenen.
Und ich frage mich:
Was sehe ich wirklich?
Den Menschen – oder meine Reaktion?
Unwohlsein als Schwelle
Ich fühle mich oft unwohl, wenn ich diesen Menschen begegne. Ihr Geruch, ihr Aussehen, ihre Nähe, ihre Verletzlichkeit – all das löst etwas in mir aus. Und lange habe ich gedacht, ich müsste dieses Gefühl loswerden, um helfen zu können. Heute glaube ich: Ich muss es nicht loswerden. Ich muss nur da bleiben ohne auszuweichen. Nicht fliehen, sondern anerkennen, dass Menschlichkeit auch Unwohlsein bedeutet.
Dieses Unwohlsein ist kein Fehler. Es ist ein Zeichen und ein innerer Widerstand, der sagt: „Hier stimmt etwas nicht.“ Das muss nicht unbedingt im Außen sein, sondern in der Beziehung zwischen mir und dem, was ich sehe.
Vielleicht ist es die Nähe zum Schmerz und die Angst, selbst einmal so zu sein. Und vielleicht ist es die Hilflosigkeit, nichts tun zu können. Oder die Wut darüber, dass es überhaupt so weit kommt. Was auch immer es ist – ich gehe nicht weg. Ich bleibe. Ich schaue hin. Und das allein könnte schon heilsam sein.
Der Gedanke: Was wäre, wenn ich einer von ihnen wäre?
Manchmal frage ich mich:
Wie wäre es, wenn ich einer von ihnen wäre? Wenn ich durch die S-Bahn laufen müsste, mit einem Becher in der Hand und dem Mut, mich sichtbar zu machen? Wenn mein Körper nicht mehr mitspielte, meine Stimme kaum hörbar wäre, mein Geruch zum Schutzschild würde? Würde ich dann noch hoffen? Würde ich mich noch zeigen können oder wollen? Oder würde ich einfach da sein und darauf vertrauen, dass jemand hinsieht?
Dieser Gedanke ist kein Spiel, sondern eine Schwelle. Er fragt nicht: Was wäre, wenn ich verliere? Sondern: Was bleibt, wenn alles fällt?
Und:
Bin ich dann weniger Mensch? Oder vielleicht sogar mehr?
Die Verurteilung – und die Scham darüber
Täglich, jahrein, jahraus, arbeite ich für mein Gehalt. Ich bin diszipliniert, fleißig und habe mir etwas aufgebaut. Und dann sehe ich jemanden, der scheinbar nichts tut. Ein Mensch, der herumlungert, der von meinen Steuergeldern lebt – und dann auch noch die Hand aufhält. Ich spüre Ärger. Und ich schäme mich dafür, weil ich weiß: Ich bin nicht besser. Vielleicht bin ich stabiler. Vielleicht bin ich glücklicher. Aber gerade weil mich dieser Gedanke so triggert, ist mir klar: Ich muss ihn anschauen. Nicht, um ihn zu verurteilen, sondern um ihn zu verwandeln.
Was ist Würde jenseits von Leistung?
Weil ich so sehr im Arbeitsleben verankert bin, spüre ich manchmal Irritation, wenn jemand scheinbar nichts tut – und trotzdem etwas will. Aber tief in mir weiß ich: Würde beginnt nicht mit Leistung. Sie beginnt mit Dasein. Ein Mensch ist nicht weniger wert, weil er nichts produziert. Nicht weniger würdig, weil er nichts vorzuweisen hat. Nicht weniger Mensch, weil er fällt. Würde ist nicht das Ergebnis von Disziplin. Sie ist ein inneres Licht, das bleibt – auch im Dunkel.
Was ist ethisch?
Ethisch ist nicht, was sich gut anfühlt. Ethisch ist, was dem Leben dient. Was den Menschen sieht – auch dort, wo er unbequem ist. Was nicht nur fragt: Was hat er geleistet? Sondern: Was braucht er, um wieder Mensch sein zu dürfen?
Ethisch ist, wenn ich mich frage: Was wäre, wenn ich einer von ihnen wäre? Was würde ich mir wünschen? Nicht an Geld, sondern an Blick. An Würdigung. An Raum.
Die Gabe – Würdigung oder Beruhigung?
Soll ich der Hand, die sich vor mir zeigt, einen Euro geben? Oder mache ich damit alles nur schlimmer? Verlängere ich das Elend? Verhindere ich damit vielleicht sogar den Schritt zur Selbsthilfe? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß: Wenn ich gebe, weil ich den Menschen sehe, nicht weil ich mich schuldig fühle, dann ist es keine Schwächung. Dann ist es ein stilles Zeichen: „Du bist da. Und ich sehe Dich.“
Ich will nicht geben, um mich zu beruhigen. Ich will geben, um zu würdigen. Nicht das Elend. Nicht die Not, sondern den Menschen darin. Ich will nicht wegsehen und auch nicht blind helfen. Ich will hinschauen. Und wenn ich gebe, dann aus einem inneren Ja. Nicht, weil ich muss, sondern weil ich sehe.
Zwischen System und Seele
Ich zahle Steuern. Ich trage Verantwortung und finanziere ein System, das helfen soll. Und manchmal frage ich mich: Warum sollte ich noch mehr geben? Aber dann steht da ein Mensch. Nicht ein Fall. Nicht ein Empfänger. Sondern ein Blick. Ein Moment. Und dieser Moment fragt nicht nach Pflicht. Er fragt nach Beziehung. Das System versorgt. Es zählt, verteilt, verwaltet. Es schützt manchmal. Es versagt oft. Es ist notwendig. Aber es ist nicht genug. Denn da ist noch etwas. Etwas, das nicht in Zahlen passt. Nicht in Formulare. Nicht in Zuständigkeiten. Da ist ein Blick. Eine Hand. Ein Mensch.
Und dieser Mensch fragt nicht nach Paragrafen. Er fragt nach Würde. Nach Berührung. Nach einem Zeichen, dass er noch gemeint ist. Zwischen System und Seele liegt eine Schwelle. Und vielleicht ist es genau dort, wo Menschlichkeit beginnt.
Und wenn ich gar nicht hinschauen will?
Manchmal will ich nicht hinschauen. Ich will das Schöne sehen. Das Ästhetische. Das Geordnete. Ich will den Dreck nicht. Und ich frage mich: Bin ich dann oberflächlich?
Ich glaube: Nein. Ich bin ein Mensch mit Sehnsucht nach Licht, nach Würde, nach Atem. Und gerade weil ich die Tiefe kenne, weiß ich, wie wichtig das Schöne ist. Nicht als Flucht, sondern als Nahrung.
Wie kann Schönheit zur Brücke werden?
Ich sehe sie, die Obdachlosen. Und ich sehe den Müll, den sie hinterlassen. Und ich spüre Widerstand, denn ich liebe das Schöne, das Geordnete, das Würdige. Und das hier scheint all dem zu widersprechen. Aber vielleicht ist Schönheit nicht das Gegenteil von Chaos. Vielleicht ist sie die Fähigkeit, inmitten von Chaos einen Raum zu schaffen, in dem Würde wieder atmen kann. Vielleicht ist Schönheit nicht nur Ästhetik, sondern eine Haltung. Eine Form von Mitgefühl, die nicht flieht, sondern gestaltet. Die nicht überdeckt, sondern verwandelt.
Schönheit ist dann eine Brücke zwischen dem, was weh tut, und dem, was heilt. Zwischen dem, was wir nicht sehen wollen,
und dem, was gesehen werden muss.
Ich glaube, dass Schönheit nicht nur in Galerien lebt, sondern auch in einem Blick, der nicht ausweicht. In einer Geste, die nicht urteilt. In einem Text, der das Unschöne nicht meidet, sondern ihm einen würdigen Platz gibt.
Und vielleicht ist genau das meine Aufgabe: Nicht das Elend zu verschönern, sondern die Würde darin sichtbar zu machen.
Die kleine Geste
Ich grüße zurück: ein Lächeln, ein Nicken, ein Blick von Auge zu Auge. Nicht aus Mitleid, nicht aus Pflicht, sondern weil ich sehe. Weil ich anerkenne, dass da ein Mensch ist und nicht nur ein Zustand. Und vielleicht ist es genau dieser Moment, in dem Würde wieder aufleuchtet, die ganz leise, aber echt ist.
PS: Vielleicht ist es ein Wunder
Ich habe nichts Großes getan. Kein System verändert. Keine Lösung erfunden. Ich habe nur zurückgelächelt. Genickt. Geblickt. Und vielleicht – ganz vielleicht – war das genug, damit ein Mensch sich erinnert: Ich bin gemeint. Vielleicht war es ein Wunder. Still. Unbemerkt. Aber echt.
Menschlichkeit beginnt nicht im Großen. Sie beginnt im Blick, der nicht ausweicht.

Die Lichtbrücke
Diese Brücke ist kein Bauwerk.
Sie ist eine Bewegung.
Eine Beziehung.
Ein Mitgefühl, das sich zwischen zwei Seelen spannt –
leise, tief, unsichtbar und doch tragend.
Sie führt nicht nur über den Fluss.
Sie führt durch das Dunkel.
Und vielleicht ist es genau dort,
wo Würde beginnt.
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