Das Quittenmärchen - eine poetische Annäherung

Veröffentlicht am 4. Oktober 2025 um 10:52

Manche Früchte leuchten, aber sie locken nicht. Sie hängen da wie kleine Sonnen, schwer und golden und doch bleibt die pflückende Hand aus, weil die Mühe zu groß scheint. Die Quitte ist eine solche Frucht. Sie fordert uns heraus – nicht mit Bitterkeit, sondern mit Härte. Und vielleicht ist es genau das, was mich an ihr fasziniert: Sie ist ein Spiegel für das, was nicht sofort zugänglich ist, aber umso kostbarer, wenn man sich die Arbeit macht, dranzubleiben. Etwas Gutes, Schönes und Wertvolles darf so entdeckt werden.

 

ein Herbsttag, ein Quittenbaum, ein Mädchen - und eine leise Verwandlung

das Märchen vom Quittenmädchen

Es war einmal ein Mädchen, das die Dinge anders betrachtete. Sie liebte das Geheimnisvolle und das Verwilderte. Gerne spürte sie Orte auf, an denen die Dinge noch Zeit hatten, wo Schönheit nicht künstlich gestaltet, sondern natürlich gewachsen war.

Eines sonnigen Herbsttages, auf einem ihrer einsamen Streifzüge, entdeckte sie einen alten, knorrigen Quittenbaum. Er stand am Rand eines großen, verwunschen wirkenden Gartens. Es war alles ein wenig zugewachsen. Das Gras schien seit längerem nicht mehr gemäht worden zu sein.. Von der Straße war der Garten durch einen braun gestrichenen, Staketenzaun getrennt. Hier schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Der Quittenbaum war sehr breit gewachsen. In den Boden gerammte Holzpfähle stützten seine herunterhängenden Äste ab, damit sie unter der Last der reifenden Quitten nicht brachen. Zwischen dem dichten dunkelgrünen Blattwerk hingen viele schwere, goldgelbe Früchte, die ein bisschen wie runde, übergroße Birnen aussahen. Täglich gingen viele Leute die Straße an dem Grundstück entlang. Wer an dem Quittenbaum vorbeikam, hob vielleicht den Kopf, betrachtete die auffallend großen Früchte und ging weiter. Was soll man damit anfangen? Im Grunde war jeder froh, keine Verantwortung für die Ernte und Verarbeitung zu haben. „Zu hart“, war die Meinung. „Zu viel Arbeit. Dafür fehlt die Zeit.“ „Zu herb, zu sperrig, zu altmodisch.“

Aber das Mädchen sah etwas anderes: eine Einladung und ein Versprechen, das nicht laut, aber tiefgründig war. Es war wie eine Liebe auf den ersten Blick. Sie wollte so viele Quitten wie möglich pflücken. Nicht aus Gier, sondern aus Sehnsucht, denn etwas in ihr hatte sich schon mit ihnen verbunden. Aber die Quitten gehörten ihr nicht. Der Baum stand auf fremdem Grund. Also traute sie sich, beim Nachbarn, dem dieser goldene Schatz gehörte, zu klingeln um zu fragen, ob sie ihm ein paar Früchte abkaufen dürfe.

Der Mann, bestimmt noch ein paar Jahre älter als sein Quittenbaum, lächelte. „Du kannst so viele auflesen, wie Du möchtest.“ Dieses freundliche Ja war mehr war als eine Erlaubnis. Es war Großzügigkeit, Vertrauen, ein Moment der Echtheit.

Das Mädchen freute sich sehr und sammelte dankbar für die Erlaubnis die Quitten vom Boden auf. Einige reife Früchte pflückte sie vom Baum. Sie leisteten keinen Widerstand. Es schien ihr, als wollten sie ihr direkt in die Hand fallen. Jede Frucht empfing sie wie ein schönes Geschenk.

Doch während sie ihren Eimer füllte, durchzog sie ein schmerzhafter Gedanke: Sie würde nicht alle mitnehmen können. Nicht alle verarbeiten. Nicht alle verwandeln.

Ein Teil der Quitten würde übrig bleiben müssen. Vor ihrem inneren Auge sah sie: Die übrigen Früchte würden bis zur Vollendung reifen, irgendwann überreif von den Ästen fallen und verfaulen. Das Mädchen wollte das verhindern und mehr nehmen, um mehr zu retten und um mehr vor der Vergänglichkeit zu bewahren. Und ein Gefühl der Hilflosigkeit breitete sich in ihr aus.

Doch die Quitte lehrte sie Maß zu halten. Sie sprach zu ihr: „Du hast Verantwortung übernommen. Kannst Du dieser gerecht werden? Nimm nur so viel, wie Du tragen und wirklich mit Freude und Hingabe verarbeiten kannst.“  

Und so kam es, dass das Mädchen alle Früchte, die sie bereits insgeheim als ihr Eigentum betrachtet hatte, innerlich losließ. Ohne zu wissen, ob sie für jemand anderen vorgesehen waren, für eine spätere Verwendung, für einen Menschen, der erst morgen vorbeikommen würde oder für die Erde selbst, die sie zurücknimmt in den natürlichen Kreislauf des Lebens, nahm sie ihren gut gefüllten Eimer und  fragte den Nachbarn, ob er als Zeichen der Dankbarkeit ein Glas Gelee haben wolle, wenn es fertig wäre. Aber er winkte freundlich und bestimmt ab.

Manche Gaben brauchen keine Gegen-Gabe. Manche Begegnungen sind schon vollständig, wenn jemand Ja sagt, ohne eine Gegenleistung zu erwarten.

Also durften die Quitten ihren Weg gehen. Das Mädchen trug sie heim und begann mit der Arbeit: den Flaum von den Früchten abreiben, die Früchte waschen, in Stücke schneiden, kochen, warten, Saft abgießen. Aus dem klaren rosafarbenen Saft mit der richtigen Menge Gelierzucker und etwas frischen Zitronensaft das Gelee kochen. Die Gläser und ihre Deckel heiß auswaschen und auf einem Küchentuch bereitstellen.
Es brauchte ein robustes Messer, Anstrengung, Aufmerksamkeit und Geduld bis zur Vollendung. Ihre Hände wurden müde. Es blubberte heiß, klebte und tropfte. Doch in ihrem Herzen breitete sich ein warmes Glücksgefühl aus. Als das Quittengelee endlich fertig war, duftete es nach etwas, das nicht gekauft werden konnte. Nach Erinnerung. Nach Hingabe. Nach Echtheit. Nach Liebe.

Sie füllte das Gelee in der roségoldenen Farbe flüssigen Herbstlichtes in die vorbereiteten kleinen Gläser, verschloss sie sorgfältig und beschriftete sie mit einem Vers:

 

„Was schwer war, wurde süß.
Was fiel, wurde sanft.
Was blieb, war echt.“

 

Und als sie das erste Glas an einen lieben Menschen verschenkte, spürte sie etwas in sich aufsteigen – eine Ahnung, ein Erkennen. Sie selbst war wie die Quitte. Nicht leicht zugänglich. Nicht glatt, nicht süß. Aber voller Tiefe, voller Duft, wenn man sich die Mühe machte, sich ehrlich auf sie einzulassen und bei ihr zu bleiben. Aus der Vorahnung, etwas Wertvolles entdecken zu können, könnte Liebe entstehen.

Und während der Herbst sich neigte und der Duft der Quitten noch in der Küche schwebte, wusste das Mädchen: Echtheit braucht keine Eile, sondern nur ein Herz, das spürt, dass es bleiben möchte.

 

Die Quitte als Spiegel

Warum berührt mich diese Frucht so?
Vielleicht, weil sie sich nicht zum sofortigen Genuss anbietet wie z.B. die Birne oder die Zwetschge. Sie verlangt Nähe, Zeit und Wärme. 

  • Die Quitte ist eine Schwellenfrucht. Sie steht zwischen zwei Welten: in rohem Zustand ungenießbar. Sie braucht die Verwandlung durch Feuer, Geduld und Hingabe. Ich sehe eine Parallele zu vielen inneren Prozessen, die erst durch Mühe zur Vollendung geführt werden können.
  • Die Quitte ist eine Hüterin des Verborgenen. Ihre raue Schale und ihr harter Kern schützen etwas Zartes. Es ist wie bei vielen Gefühle, die nicht laut sind, aber umso kostbarer.
  • Die Quitte duftet nach Erinnerung und nach den Händen der Großmütter. Sie verkörpert die Sehnsucht nach mildem Herbstlicht und nach dem, was bleibt, wenn die Wärme des Sommers vergeht.
  • Die Quitte ist unbequem. Die Beschäftigung mit ihr ist zeitintensiv. Aber gerade darin liegt ihr Wert. Sie schenkt Tiefe, wo anderes an der Oberfläche bleibt. Und vielleicht berührt sie mich so, weil sich ein Teil von mir in ihr erkennt. 

 

Die Quitte als Gabe

Wenn ich ein Gläschen Quittengelee aus meinem Vorratsschrank hole und an einen lieben Menschen weitergebe, verschenke ich nicht nur den besonderen Geschmack, sondern Wertschätzung. Ich verschenke ein Stück von mir, meiner Kreativität, aus meinem Herzen von dem, was nicht sofort sichtbar ist, aber erhalten bleibt.

Für mich ist die Zubereitung von Quittengelee ein lieb gewonnenes Ritual und genüssliches Fest, das ich ganz allein für mich in meiner Küche feiere. 

Die Quitte hat gesprochen – nicht laut, sondern durch Duft, Maß und Mühe. Und wer ihr lauscht, erkennt nicht nur eine Frucht, sondern möglicherweise sich selbst: als Gabe, als Schwellenwesen, als leuchtender Kern im Herbstlicht.

Goldgelbe Quitten - das Quittenmärchen

Sie war nicht leicht zugänglich. aber voller Gold.

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