Auch ich bin eine Oma.
Ich liebe das Lachen, das Knuddeln, das Leben – ganz echt, ganz nah. Mit offenem Herzen und mit Händen, die tragen und nicht greifen, halte ich mein Enkelkind. Und ich will sein wie ein Licht: liebevoll, klar und sicher.
Denn ich weiß:
Liebe ist nicht das Gegenteil von Grenze. Sie ist ihr Boden. Wenn ein Kind „Finger weg“ sagt, dann beginnt nicht die Trennung, sondern die Beziehung.
Es war einmal ein fast dreijähriges Kind, das unvermittelt zur Oma sagte:
„Finger weg!“
Die Oma war überrascht. Und als es wiederholt vorkam, fühlte sie sich gekränkt. Sie liebte ihr Enkelkind vom ersten Augenblick an sehr, verwöhnte es, und fuhr alle paar Wochen eine weite Strecke, um es zu sehen. In ihrem Herzen trug sie stets sein süßes Babylächeln und jeder Abschied fiel ihr unendlich schwer. Aber nun überlegte sie sogar, vorzeitig abzureisen. Denn sie verstand ihr geliebtes Enkelkind nicht und fühlte sich abgelehnt.
Warum kam dieses plötzliche Nein des Kleinkindes? Und wieso fiel es der lebenserfahrenen Frau so schwer, es zu akzeptieren?
Das Kind wollte in dem Moment einfach nur in Ruhe gelassen werden. Und irgendwo in diesem kleinen Augenblick liegt ein ganz großes Thema:
Wie lernen Kinder, dass ihr Körper ihnen gehört? Und wie lernen Erwachsene, dass ein Nein weder eine Ablehnung noch ein Angriff ist?
Meine eigene Erinnerung
Nach der Erzählung des Vorfalls wanderten meine Gedanken weit zurück zu meiner eigenen Kindheit. Ich war auch ein kleines Kind, das sich abwandte. Wann geschah der Kippmoment in meinem Leben? Daran erinnere ich mich nicht, aber an die weitreichende Wirkung, die mein Nein auslöste. Auf alten Fotos ist mein Vater zu sehen, wie er mich voller Stolz hält und mir das Milchfläschchen reicht. Das war in den ersten Monate meines Lebens, in denen ich mich noch geliebt und geborgen fühlte. Aber dann verstummte mein Vater mir gegenüber und ich fühlte mich immer mehr abgewiesen. Ich bekam den Stempel „frech“, „altklug“, „vorlaut“. Und wir wurden uns fremd. Das bliebe so, auch als ich längst erwachsen war. Wir haben es Zeit seines Lebens nicht mehr geschafft, normal miteinander zu sprechen.
Lange habe ich über diesen Verlauf unserer Beziehung getrauert, ohne ihre Ursache zu verstehen. Aber heute weiß ich: Ich habe in meinem kindlichen Sein nichts falsch gemacht. Ich war ich. Und mein Vater mit seiner eigenen Geschichte konnte wohl nicht anders sein.
Entwicklung von Nähe-Distanz-Gefühl bei Kleinkindern
Kinder beginnen etwa ab dem zweiten bis dritten Lebensjahr ein erstes Gespür für ihre körperlichen Grenzen zu entwickeln und diese auch sprachlich auszudrücken. Dass ein fast dreijähriges Kind „Finger weg!“ sagt, ist ein deutliches Zeichen dafür, dass es seine Integrität wahrnimmt und beginnt, sie zu verteidigen.
- Ab ca. 2 Jahren: Kinder erkennen, was sich angenehm oder unangenehm anfühlt. Sie beginnen, Berührungen zu bewerten und können sich abwenden oder protestieren.
- Ab ca. 3 Jahren: Sie sind zunehmend in der Lage, ihre Gefühle zu benennen („Ich mag das nicht“) und Grenzen verbal zu setzen.
Diese Äußerungen sind kein Zeichen von Ablehnung oder mangelnder Liebe gegenüber der Bezugsperson, sondern Ausdruck von Selbstbestimmung und einem gesunden Körperbewusstsein.
Sie lernen:
- „Ich bin ich.“
- „Ich darf Nein sagen.“
- „Ich darf Nähe wählen und muss sie nicht ertragen.“
Warum Erwachsene auf ein Nein oft verletzt reagieren
Viele von uns – Eltern, Großeltern, Tanten, Onkel – haben Nähe gelernt als Berührung. Ein kindliches Nein kann sich anfühlen wie Ablehnung. Es berührt alte Wunden:
- Bin ich nicht liebenswert?
- Habe ich etwas falsch gemacht?
Doch das Kind meint nicht: „Ich liebe dich nicht.“ Es meint: „Ich brauche Raum.“
Manchmal sagt das Kind: „Finger weg.“ Und wir hören: „Du bist nicht willkommen.“ Doch vielleicht spricht nicht das Kind, sondern unser eigenes inneres Echo: Die Hand, die einst nicht gehalten wurde. Die Nähe, die einst zu viel war. Die Stimme, die nie Nein sagen durfte. Wenn wir innehalten, hören wir mehr als Worte. Wir hören Geschichte. Und vielleicht beginnt Heilung nicht im Tun, sondern im Lauschen. Denn jedes kindliche Nein ist auch eine Einladung: Sieh mich. Und sieh Dich. Bei diesem Sehen geht es nicht um vergleichen, sondern um verstehen. Beziehung beginnt dort, wo wir aufhören, uns zu verteidigen und anfangen, uns zu erinnern.
Was Erwachsene liebevoll tun können
- Innehalten statt interpretieren.
„Du willst gerade nicht kuscheln – das ist okay.“ - Alternativen anbieten.
„Wie möchtest Du begrüßt werden? Mit einem Winken? Einem Lied? Einem Tanz?“ Damit wird Nähe zur Wahl, nicht zur Pflicht. - Gefühle ohne Schuld benennen.
„Ich bin ein bisschen traurig, weil ich Dich so gern umarmen wollte. Aber ich verstehe Dich.“ Das zeigt Empathie.
- Eigene Grenzen zeigen. Das Kind lernt: Auch Erwachsene sagen Nein – und bleiben liebevoll. Das ist Authentizität, die Vertrauen schafft.
- Humor hilft.
„Kuscheln nur mit Voranmeldung!“ Ein Lächeln öffnet Türen, die der Druck verschließt.
Aus Sicht des Kindes – mit einem Augenzwinkern
Ich bin fast drei. Ich habe eine Meinung. Und ich habe einen Körper.
Und manchmal will ich einfach meine Ruhe.
Meine liebe Oma kommt mit freundlichem, erwartungsvollem Blick und offenen Armen.
Aber heute? Heute bin ich ein Vulkan. Ich bin wild und frei.
Oma greift nach mir. Ich sage: „Finger weg!“ Ich bin kein Kuscheltier.
Ich bin ein Mensch mit Stimmung. Mit Raum. Mit einem Nein, das zählt.
Und wenn wir das Nein ernst nehmen?
Dann lernen Kinder:
- Ich darf mich zeigen, wie ich bin.
- Ich darf mich schützen, indem ich Grenzen setze.
- Ich darf darauf vertrauen, dass ich in meiner Persönlichkeit respektiert werde.
- Ich darf mich sicher fühlen, denn ich bleibe weiterhin geliebt.
Und Erwachsene lernen:
- Ich werde nicht als Mensch abgelehnt. Ich bin eingeladen, das Kind in seiner Persönlichkeit wahrzunehmen.
- Ich darf meine gute Beziehung zum Kind entspannt weiterentwickeln.
- Ich erkenne meine eigene Empfindlichkeit und darf an der Erkenntnis wachsen.
Und manchmal ist es das Kind, das uns erinnert, wie Liebe beginnt. Denn Liebe ist das, was bleibt, wenn das Kind sich abwendet und Du nicht gehst. Liebe, die wahrhaft trägt, beginnt in der Wiege und endet nicht mit dem Tod. Sie bleibt, weil sie nie verlangt, sondern einfach da ist.
Das Nein, das schützt
Das Kind sagt: „Finger weg.“ Und wir hören es. Wir achten es. Und manchmal sagen wir Erwachsenen Nein. Das geschieht aus Liebe und Verantwortungsbewusstsein. Denn ein Nein, das klar ist, ist ein Ja zur Beziehung und es schützt das Kind vor sich selbst, vor Überforderung und vor dem Verlust von Orientierung. Ein Nein ist keine Ablehnung. Es ist ein Geländer. Und wer es setzt, bleibt aufrecht. Er ist nicht hart, sondern verlässlich.
So lernt das Kind: Ich darf Nein sagen. Und ich darf ein Nein hören, ohne mich zu verlieren.
Und der Erwachsene lernt: Ich darf führen mit Herz, mit Klarheit und mit Mut. So bleibe ich authentisch und gebe Orientierung.
Selbstfürsorge – das Vorbild in Beziehung
Wer ein Kind liebt, darf sich selbst nicht verlieren. Denn Liebe, die sich aufopfert, wird irgendwann müde. Und müde Herzen hören kein Nein mehr. Sie verlieren ihre Empathie. Darum beginnt echte Beziehung nicht im Opfer, sondern im Gleichgewicht. Ich bin da für Dich. Und ich bin da für mich. So wird Nähe nicht zur Last, sondern zur Einladung. Und das Kind lernt: Auch ich darf für mich sorgen, weil Du es mir vormachst. Du bist mein Vorbild. Und vielleicht beginnt Heilung nicht im Tun, sondern im Lauschen. Denn jedes kindliche Nein ist auch eine Ermutigung:
Sieh mich. Und sieh Dich.
Wiegenlicht
Ein Stern wacht still über die erste Zeit,
die Wiege schaukelt Geborgenheit.
Ein goldenes Blatt liegt leise dabei –
ein sanftes Symbol: Hier bin ich frei.
Die Herzen leuchten, warm und rund,
sie flüstern Liebe ohne Grund.
Doch plötzlich ruft das Menschenkind::
„Finger weg!“ – deutlich und klar und ganz geschwind.
Nicht trotzig, nicht fern - nur ganz bei sich.
Ein Nein, das klingt: aus dem Herzen kindlich.
Und wer das hört, bleibt still und weich
und wird zum Stern im Herzensreich.
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Vielen Dank für diesen liebevollen Artikel.